Prof. Dr. med. Michel Fernex, der an einem Beispiel das
propagandistische Wirken der IAEO aufzeigt.
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Wer schützt uns vor der IAEO?
Die Weltgesundheitsorganisation WHO übt sich in vornehmer Zurückhaltung, wenn es um
Strahlenrisiken geht. Das hat seinen Grund: Die WHO liess sich von der Internationalen
Atomenergiebehörde (IAEO) einen Maulkorb verpassen.Von Prof. Dr. med. Michel Fernex,
Postfach 167,CH-4118 Rodersdorf
Die Verfassung der UN-Weltgesundheitsorganisation WHO? definiert 22 Pflichten, damit die
Institution ihre medizinischen Ziele überhaupt erreichen kann. Unter anderem heisst es in
der WHO-Verfassung:
* "Umfassende Aufklärung, Ratschläge und Unterstützung im Bereich der
Gesundheit."
* "Förderung einer klaren Meinungsbildung in der Bevölkerung betreffend der
Gesundheitsprobleme, basierend auf einer aufgeklärten Öffentlichkeit."
Im Rahmen dieser Richtlinien fand im August 1956 eine Konferenz statt, an der 20 namhafte
Genetiker ihre Befunde darlegten, um vor den Konsequenzen der sogenannt friedlichen
Nutzung der Atomenergie zu warnen. Schon damals war bekannt, dass ionisierende Strahlung
bei vielen Lebewesen von Bakterien bis zu den Säugetieren Mutationen
hervorruft.<sum>
In ihrer gemeinsamen Stellungnahme schrieben die Genetiker: "Das Erbgut ist das wertvollste Eigentum der Menschen. Es bestimmt das Leben ihrer Nachkommenschaft, die gesunde und harmonische Entwicklung der künftigen Generationen. Wir als Gruppe behaupten, dass die Gesundheit der künftigen Generationen durch die zunehmende Entwicklung der Atomindustrie und Strahlungsquellen gefährdert ist. (...) Wir sind auch der Meinung, dass neue Mutationen, die bei Menschen auftreten, für sie selbst wie für ihre Nachkommen schädlich sein werden."<sum> Der Genetiker und Nobelpreisträger Prof. H. J. Müller erwähnte an dieser Konferenz Experimente mit sehr kleinen Strahlendosen, die bezüglich der Dosiswirkungsrelation zu überraschenden Ergebnissen geführt hatten. Seither sind zahlreiche Arbeiten über die schädlichen Effekte niedriger Strahlendosen publiziert worden, die mit Experimenten zeigten, dass sehr kleine Dosen überproportionale Schädigungen auslösen. 3, 4, 5 Die Publikation zu dieser WHO-Tagung sowie die Stellungnahmen des ersten Weltkongresses für Genetik, der im selben Jahr in Dänemark stattfand, sorgten bei der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) für Unruhe. Die IAEO war offiziell gegründet worden, um weltweit die Sicherheit im Nuklearbereich zu überwachen und zu kontrollieren, sie setzt sich jedoch auch explizit für die Förderung der kommerziellen Atomindustrie ein. In ihren Statuten die 1996 in Wien wieder zitiert wurden heisst es:
Das Hauptziel der IAEO ist "die Beschleunigung und die Förderung der Atomindustrie für den Frieden, für die Gesundheit und für das Wohlbefinden in der ganzen Welt".(6) Fast nebenbei wird in diesem Text betont, dass die IAEO auch für Gesundheitsfragen im Bereich der Atomindustrie zuständig sei. Nach 1958 zwang nämlich die IAEO die WHO durch Verhandlungen zum Schweigen, 1959 wurde diese Vereinbarung in einem Abkommen zwischen den beiden UN-Organisationen fest geregelt. Seither werden die gesundheitlichen Risiken, die die kommerzielle Nutzung der Atomenergie allenfaslls mit sich bringt, vom Nuklearpromotor selbst "überwacht" beziehungsweise "erforscht" und nicht mehr von unabhängigen medizinischen Behörden. Das Abkommen verfügt implizit, dass Forschungsprojekte deren Resultate potentiell die Förderung der Atomindustrie behindern könnten entweder gar nicht oder nur noch von der IAEO gemeinsam mit der WHO durchgeführt werden. Die IAEO fürchtet zurecht, dass sich ein aufgeklärtes Publikum der Atomenergie entgegenstellen könnte, und legt deshalb im erwähnten Abkommen fest: "Die IAEO und die WHO sind sich bewusst, dass es notwendig sein könnte, restriktive Massnahmen zu treffen, um den vertraulichen Charakter gewisser ausgetauschter Informationen zu wahren (...)." Dabei geht es vor allem darum, dass als vertraulich deklarierte Daten, die zwischen den beiden Organisationen ausgetauscht werden, auch wirklich geheim bleiben. (7)
Diese Verpflichtung zur Vertraulichkeit verstösst jedoch gegen die Statuten der WHO,
die eine aufgeklärte Öffentlichkeit verlangen. Es bedeutet letztlich auch nichts
anderes, als dass gemäss diesem IAEO-WHOAbkommen die Weltbevölkerung betreffend
Nuklearrisiken offensichtlich vor der Wahrheit geschützt werden muss. Für die
programmierten bevorstehenden Atomindustrieunfälle verheisst das: Die Bevölkerung wird
noch schlechter informiert und noch schlechter geschützt als es schon bei Tschernobyl der
Fall war weil es primär darum geht, die AKW-Betreiber vor Schadenersatzforderungen
zu schützen.(8)
Parallelen zur Contergan-Affäre
Nach der Einführung von Thalidomid ein Schlafmittel und Tranquilizer (bekannt
unter dem Produktenamen "Contergan") trat Anfang der sechziger Jahre eine
Epidemie von Missbildungen bei Neugeborenen auf. Ihre Mütter hatten während der
Schwangerschaft Thalidomid eingenommen. Thalidomid wirkt bei Insekten, Vögeln und
Säugetieren teratogen (aber nicht mutagen), das heisst, es verursacht bei Embryonen in
bestimmten Entwicklungsphasen Missbildungen. Die Thalidomid-Embryopathie, die am
häufigsten gekennzeichnet ist durch fehlende Glieder (Amelie oder Phocomelie), war
allgemein bekannt. Medizinische Experten behaupteten jedoch in Publikationen (9) wie vor
Gericht, es sei in keinem der zirka 5 000 Fälle ein kausaler Zusammenhang zwischen der
Thalidomid-Einnahme und der Missbildung beweisbar. Ihr Hauptargument: "Es existiert
kein Missbildungsregister, das es ermöglichen würde, statistisch zu beweisen, dass das
Thalidomid die verursachende Substanz ist." Trotz des Freispruchs der Firma durch die
Richter hat die Food and Drug Administration (FDA) in den USA (wo Contergan allerdings gar
nie zugelassen war) danach sehr strenge Regelungen eingeführt, die weltweit übernommen
worden sind: Substanzen müssen vor der klinischen Prüfung auf Teratogenizität,
Karzinogenizität und besonders auf Mutagenizität getestet werden. Neue Medikamente, aber
auch Insektizide, die im Bakterienmodell oder Zellkulturtest mutagene Eigenschaften
aufweisen, werden eliminiert. Würden dieselben Regeln, die für die chemische Industrie
gelten, auch auf die Atomindustrie angewendet, liesse dies nur einen Schluss zu: Alle
Atomanlagen müssten sofort stillgelegt werden da alle Stadien von der
Uranextraktion, über die Energieproduktion, bis hin zur Atommülldeponie mit der
Freisetzung von mutagenen Radioisotopen verbunden sind.
Frisierte Studien
Die Atomlobby hindert jedoch WissenschaftlerInnen, auf diesem Gebiet zu forschen und zu
publizieren, sofern ihre Ergebnisse nicht "günstig" ausfallen. J.-F. Viel (10),
Professor für Epidemiologie, beschreibt, wie man jedoch auf Wunsch "günstige"
Forschungsresultate produzieren kann (11): Es gibt Methoden, die es erlauben, willkürlich
negative Ergebnisse zu erzielen, indem man methodologische Fehler in die
Forschungsprotokolle einbaut. Indem man sich beispielsweise wenn man die
Krebshäufigkeit studieren möchte nur auf die Mortalität (Anzahl Todesfälle)
abstützt und nicht die Morbidität (Anzahl Erkrankungen) in einem Beobachtungszeitraum
von beispielsweise zehn Jahren untersucht (siehe "Statistische Mogeleien").
Betrachtet man nur die Mortalität, erhält man Daten, die keinen
statistisch-signifikanten Unterschied zwischen Strahlenexponierten und Nichtexponierten
nachweisen lassen mit der Morbidität könnte es jedoch ganz anders aussehen.
Mit "methodologisch frisierten" Studien können die Atombefürworter dann
behaupten, es sei nichts Beunruhigendes, zum Beispiel keine erhöhte Leukämierate,
gefunden worden. Und die AKW-Promotoren benutzen sie, um weitere Atomkraftwerke zu
propagieren. Studien bedürfen stets grosser finanzieller Unterstützung. Deshalb meiden
die WissenschaftlerInnen das heikle Gebiet "Strahlenrisiko", um sich keinen
beruflichen Schwierigkeiten auszusetzen. Die Internationale
Atomenergieorganisation (IAEO) hat dafür gesorgt, dass dies so läuft und dass es auch in
Zukunft so laufen wird. Sie weiss sich von den nationalen Instanzen und Nuklearlobbies
unterstützt. In Frankreich übte beispielsweise der frühere Direktor der französischen
Electricité de France, M. Boiteux, der die ganze AKW-Entwicklung leitete, einen starken
Einfluss auf die nationalen Gremien (C.N.R.S.) aus, die die Forschungsstipendien
verteilen.
Hartnäckige WissenschaftlerInnen
Einigen wenigen, hartnäckigen, unabhängigen ForscherInnen ist es zu verdanken, dass
inzwischen trotzdem statistisch gesicherte Daten über die Zunahme von Krebs und Leukämie
im Umkreis von Atomanlagen vorliegen. Auch über die medizinischen Folgen von Tschernobyl
existieren dank der beharrlichen Arbeit vor allem weissrussischer
WissenschaftlerInnen inzwischen mehrere Untersuchungen, deren Ergebnisse
erschrecken. Die Krebsrate wie die genetischen Mutationen (vgl. nachfolgenden Text
"Tschernobyl wütet im Erbgut") sind bereits statistisch signifikant
angestiegen. Die IAEO und die WHO akzeptieren jedoch nur die Häufung von
Schilddrüsenkrebs als Folge von Tschernobyl.
In Weissrussland beobachtet man aber noch ganz andere Schädigungen, über die kaum
berichtet wird: Zum Beispiel haben die Autoimmunkrankheiten, wie durch
Insulinmangel bedingte Zuckerkrankheit (besonders bei Kindern) und andere endokrine
Störungen massiv zugenommen. Man stellt zudem Krankheitssyndrome
wie neuropsychiatrische Krankheiten und Kardiomyopathien bei Jugendlichen fest. Diese
Syndrome sind darauf zurückzuführen, dass in den Hirnzellen oder
im Myokard das Kalium durch Cäsium-137 ersetzt wird, was zu Zellmembran-Dysfunktionen
führt.(12) Die WHO hält sich aber trotz all diesen aufrüttelnden Erkenntnissen an das
von der IAEO verordnete Schweigen. Über genetische Schäden nach Tschernobyl darf nicht
die Rede sein.
1. Documents Fondamentaux, 40e édition, OMS, Genève 1994
2. Effets génétiques des radiations chez l'homme. pp. 184, OMS Palais des
Nations Genève, 1957
3. Petkau A.: Radiation effects with a model Lipid Membrane. Canadian J. of
Chemistry, Vol. 49, p. 1187-1196, 1971
4. Burlakowa E.B.: Kleine Strah-lungsdosen, Wirkungsgesetzmäs-sigkeit und
Risiko. Die wichtigsten wissenschaftlichen Referate, International Congress
"The World after Chernobyl", Minsk, 1996, p105-108/Low intensity radiation:
radiological aspects. Radiation protection Dosimetry, Vol 62, No 1/2 p.
13-18, 1995; Nuclear Technology Publishing, 1995
5. Stewart A.M. : Low Dose Radiation: The Hanford Evidence, Lancet, No 8072,
p. 1048-1849, 1978
6. One Decade After Chernobyl. Summing up the Consequences of the Accident,
Building of the IAEA, Proceedings of an International Conference, Vienna, pp
555, 8.-12. April 1996
7. Die zitierten Paragraphen des Abkommens findet man in den "Documents de
Base", vgl. Fussnote 1
8. Permanentes Völkertribunal. Tschernobyl. Auswirkung auf Umwelt,
Gesundheit und Menschenrechte, Wien, Österreich, 12-15. April 1996. Buch
erhältlich bei der Bundesarbeits-gemeinschaft "Den Kindern von Tschernobyl
in Deutschland e.V.", ESG-Haus, Breul 43, 48143-Münster; Fax.: +49-
2501-27417.
9. Hartlmaier K.M.: Es geht nicht nur um Contergan. Am 1. Mai beginnt der
grosse Prozess Er betrifft grundsätzliche Fragen. Zahnärztliche
Mitteilungen, Nr. 9, p 427-429, 1968
10. Viel publizierte 1997 eine aufsehenerregende Studie über Leukämie in der
Umgebung von La Hague; Viel J.F., Pobel D. (1997): Case control study of
leukaemia among young people near La Hague nuclear reprocessing plant: the
environmental hypothesis revisited, in British Medical Journal, 314, p.
101106
11. Viel J.F., Conséquences des essais nucléaires sur la santé: quelles
enquêtes épidémiologiques? Médecine et guerre Nucléaire, Vol. 11, p 41-44,
janv.-mars 1996/Monographie à paraître à "La Découverte" en février 1998
12. Bandazhevsky Y.I. & Lelevich V.V.: Clinical and experimental aspects of
the effect of incorporated radionucleides upon the organism. Monography,
Gomel State Medical Institute, p. 128, 1995
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